Wir sind draußen!
Im wahrsten Sinne des Wortes. Wir haben unser Heim und unsere Lieben zurückgelassen, um unserem Alltag zu entfliehen. Wir sind ausgestiegen … aus der Routine, aus der Tretmühle eines Systems, welches kaum noch Gestaltungsmöglichkeiten offen lässt, aus dem Hamsterrad der immer wiederkehrenden Sinnlosigkeit und Vergeudung menschlicher Qualitäten und Talente. Raus aus einem modernen Sklaventum. Raus aus der Pflichterfüllung. Raus aus einem nur schwer zu entziehendem Gespinst aus Erwartungen, Enttäuschungen und kurzweiliger Entspannung. Raus aus dem kollektiven Irrsinn. Raus aus herrschender Moral. Raus aus der kapitalen Heuchelei, unter der wir zu leben gedachten, aber nicht wirklich taten. Raus aus dem Sumpf von Eitelkeiten und Demagogie. Raus aus Fortschritt. Raus aus Urbanität. Raus aus einem sozialisierten Traum, der nicht unseren Köpfen entsprang. Hinein in die Wirklichkeit. In unsere Wirklichkeit. Unseren Traum, den es zu leben gilt. Rein in unseren Rhythmus. Rein in die Natur. Rein ins Abenteuer. Rein ins Neuland. Rauf auf den Sattel. Hinein ins Ungewisse, Neue, Erleben, Spüren, Sehen, Staunen. Auf in die Freiheit und Selbstbestimmung. Auf zu sich selbst. Hier. Heute. Jetzt. Zeit. Mehr. Entdecken. Kennenlernen. Freundschaft. Gastfreundschaft. Hilfe. Unvoreingenommen. Ehrlich. Freude. Überwinden. Neu orientieren. Sich den Elementen fügen. Gleiten. Lieben. Leben.
Deshalb sind wir aufgebrochen. Es war ein langer Weg bis hierher. Und er war nicht einfach. Die letzten kleinen Hürden, die es zu überwinden galt, haben wir genommen. Letzte Impfungen. Auslandskrankenversicherung abgeschlossen. Bei der Hiesigen gekündigt. Wohnung übergeben und verlassen. Von Familie und Freunden verabschiedet. Fahrräder, so gut es ging, auf Vordermann gebracht.
Reiseradauf- und umbau!
Ich hatte mich früh dazu entschlossen, mein Rad für diese Tour noch einmal etwas umzubauen bzw. zu verbessern. Es fehlte noch ein Vorderradgepäckträger. Diesen hatte ich bereits schon im März 2018 installiert. Dafür waren eigentlich nur ein paar Distanzhülsen am Lowrider von Nöten, damit sich die Packtaschen auch noch problemlos ein- und aushängen lassen. Scheinwerfer nach vorne verlegen. Kabel verlängern. Die meiste Arbeit war dann aber an allen anderen Stellen.
Rohloff Steckritzel-Adapter.
Mich nervte schon beim allerersten Wenden des Ritzels an der Rohloffnabe die Demontage. Und ich habe nie verstanden, warum Rohloff mit einer recht genialen Nabe ein Verschleißteil wie das Ritzel auf so quälende Weise anordnet. Das Ritzel wird aufgeschraubt und frisst sich nach nur wenigen Kilometern so fest, das man nur mit schwerem Gerät (gemeint Fäustel und beherzte Schläge damit auf Kettenpeitsche oder Gegenschlüssel) es zu lösen vermag. Da haben sich schon viele bei verletzt. Seit geraumer Zeit gibt es ein Steckritzel. Dazu wird ein Adapter anstelle des bisherigen Ritzels aufgeschraubt und verbleibt dort auch. Das Ritzel, welches man nach ein paar Tausend Kilometern umdreht oder wechselt, wird hierzu nur noch aufgesteckt und mit einem Sicherungsring gehalten. Das vereinfacht natürlich vieles und passt jetzt endlich ins Konzept dieser sonst recht wartungsfreien und genial konstruierten Nabe. Ich bin fast auf die Knie gefallen, als ich von dieser Lösung hörte, und konnte es kaum abwarten, es umzusetzen. Jetzt endlich ist es geschehen.
Das Ganze durfte ich in der örtlichen Fahrradwerkstatt meines Vertrauens tätigen, die mir hierzu etwas Platz geschaffen haben. Außerdem konnte ich entsprechendes Werkzeug benutzen, um so kurz vor der Abreise mir nicht auch noch die Hände aufzureißen. Danke noch mal an dieser Stelle an Fahrrad Möller in Velbert für den Support! Also Kettenpeitsche bleibt zu Hause!
Langzeiterfahrungen mit dieser Lösung folgen … ich habe allerdings noch nichts Nachteiliges gehört.
Bereifung.
Ich fuhr jetzt ca. 7000 km einen Schwalbe BigApple. Vorne hätte dieser sicher auch 10000 km geschafft. Hinten war jetzt ein Wechsel nötig. Bin die letzten 500 km mit aufgerissener Flanke gefahren. Das steckt dieser Reifen locker weg … nur mein Gewissen nicht. Ein wirklich tolles Modell, welches mit wenig Luft eine gute Federung bietet. Achtung! Steile Kurvenlage nur mit 4-5 bar zu bewältigen. Ansonsten schmeißt es Dich aus dem Sattel. Gewichtsreduzierung auf wirklich langen Reisen und etwas mehr Profil rufen nach einem anderen Reifen.
Jetzt sind die all Zeit bewährten Schwalbe Mondial montiert. Ein guter Allrounder, langlebig bei 4-5 bar und ein Faltreifen noch dazu. Wesentlich leichter als der BigApple. Der Preis ist berechtigt! Wobei ich mich echt frage, wie all die unterschiedlichen Preise von 25,- bis 57,- € zustande kommen? Bei der Gelegenheit gleich auch mal neue Schläuche gegönnt.
Tretlager.
Vorher BSA Vierkant 131 mm. Mit der Länge relativ selten. Lies sich problemlos ausbauen und die Plastiklagerschalen zeigten ersten Verschleiß. Also richtige Entscheidung. Jetzt Shimano mit Aluschalen 127 mm. Ritzel mit Kurbel hatte ich sehr lange eine Allmighty mit Stahlritzel gefahren. Das verbaut Utopia standardmäßig. Gute Wahl, aber musste jetzt auch einer Shimano weichen. So etwas bekommt man in Asien auch leichter. Wir werden sehen … 38 Zähne vorne und an der Nabe 17 Zähne. Das ist relativ klein übersetzt, aber für meinen Bedarf und Gewicht genau richtig.
Kette
KTC macht gute günstige Ketten. Jetzt soll mal etwas anderes her. Neue Ritzel. Neue Kette. Campagnolo also. Nicht ganz so günstig, aber sehr gute Eigenschaften. Das sollte es auch gewesen sein. Jetzt die ganze Chose noch mal …. der Drahtesel von Rane (meine Frau), die nicht schraubt, weil sie sich das nicht zutraut, soll die gleiche Behandlung erhalten. Doch mit den Erfahrungen kommt auch das nötige Selbstbewusstsein. Man muss es einfach nur versuchen. Wie so oft im Leben.
Packstrategie.
Gibt es die eigentlich? Ich weiß es nicht. Unzählige Male habe ich meine Packordnung und Vorgehensweise bereits geändert. Meist ein oder zwei Tage vor der Reise. Da entsteht plötzlich während des Packens ein ganz eigener Rhythmus. Eine Art Dynamik, die ich nur schwer kontrollieren kann. Fakt ist: vorne kleine Taschen, die nur leichte Dinge beherbergen sollen. Es fährt sich einfach besser. Außerdem ist ja noch ein Frontgepäckträger montiert, der meine Regenkleidung trägt oder vielleicht den ein oder anderen Einkauf. Hinten große Ortliebtaschen, die meist den Großteil der Kleidung tragen sowie Kulturbeutel, Flipflops, Schuhe und Kamera stets griffbereit. Zelt hatte schon immer seinen Platz hinten auf dem Gepäckträger. Der ganze Rest kommt in den Anhänger … Dinge, die man tagsüber nicht unbedingt benötigt. Oder aber Ersatzteile usw. … Ist das bereits eine Strategie?
Vorne – leicht, oft benötigt.
Hinten – schwerer, obenauf ständiger Zugriff.
Anhänger – schwer, selten oder nur abends in Gebrauch.
Damit bin ich bisher gut gefahren! Gewichtsverteilung ist also wichtig für einen guten Lauf des Rades. Diese Ausführungen sollen nur veranschaulichen, damit Ihr Euch damit vergleichen könnt und zu Eurem eigenen System findet. Andere Bedürfnisse erfordern andere Strategien. Es ist also auch hier gut, wenn man sich ein wenig organisiert. Lenkertasche: Sonnenbrille, Luftpumpe, Bluetoothbox, erstmalig ein Smartphone – dafür kein GPS-Gerät! Lowrider vorne: Multifuelkocher, Espressokocher & Tassen, Kaffee, Gopro, Tarp, Wasserkessel, div. Kochzubehör Hinten: Kleidung, Flipflops, Handtuch, Kulturbeutel, Ladegeräte Schuhe, Kameraausrüstung, Zelt, Isomatte Anhänger: Schlafsack, Karten, Ersatzteile, Flickzeug&Co., Winterjacke, Winterunterwäsche, Kopfkissen, Brennstoffreserve, Wasserfilter, Vorräte, Kochhardware, Stuhl, Tablet & Co.(Sicherung und Workflow), Solarlader, Powerbank, kl. Reisegitarre
Denkanstöße …
Minimalismus oder Wohlfühlen? Geht auch beides?
Ich finde, das muss jeder selbst entscheiden. Ich bin schon Purist. Und ich entscheide mich ganz konsequent für den Moment.
Eine einfache Tasse Kaffee und eine schöne Natur zugleich beflügeln mich extrem. Ich bin auch Genussmensch. Das heißt, ich kann mich stundenlang in die Natur setzen und mich umschauen. Meist entdecke ich aber auch immer etwas, das mich fesselt oder aber zu einer Handlung zwingt, wie etwa Fotografie oder Filmen. Ein kreativer Prozess, der weit ab unseres Alltagsbewusstseins entspringt. Und den ich meist später erst vervollständige. Ich erfreue mich an den Dingen um mich herum, spüre sie auf und versuche sie auch festzuhalten. Nicht nur mental. Da mir das aber extreme Freude bereitet -kreativ zu sein - , gönne ich mir den Luxus einiger Gadgets auf Reisen, die ich auch ständig benutze. Ein weiterer Aspekt, der eine Mitnahme entscheiden könnte ... Und das nicht nur für mich, sondern auch für diejenigen, die zu Hause geblieben sind.
Also Minimalismus funktioniert bei mir nur bedingt; auf dieser Tour auf jeden Fall nicht!
Wenn Ihr also uns noch ein bisschen länger verfolgt, werdet Ihr auch verstehen, wieso.
Den eigenen vier Wänden tut eine Entschlackung dann und wann gut; auch fürs Gemüt! Entsagung unter Selbstzwang bringt nichts. Ich möchte mich gut fühlen und mir nichts auferlegen. Und wenn es mir Freude bereitet auf einem Stühlchen den Sonnenaufgang eine Stunde zu betrachten, mit ´nem frisch aufgebrühten Kaffee oder Tee in dem wärmenden Becher, dann muss ich auf dem Rad dafür „bezahlen“. Und zwar mit zusätzlichem Gewicht, für das ich mit meinem Anhänger jeden Weg bergauf Tribut zollen muss. Und ich mache das gern. Und ich nehme mir auch die Zeit dafür.
Okay, das Fahrverhalten eines im modernen Begriff des Bikepacking zu verstehenden Rades ist schon einfacher, leichter. Nicht außer Acht zu lassen, sind auch die Investitionen für sog. Bikepackingtaschen, usw. Lohnen sich die Ausgaben für die relativ geringe bessere Mobilität gegenüber dem sog. Biketouringsystem mit althergebrachten Gepäckträgertaschen?
Die Mobilität der sogenannten Bikepacker ist größer. Ja, aber ist man damit auch zufriedener? Vielleicht hipper … Ich glaube, das ist eher ein Trend, der mit Sicherheit auch Gutes mit sich bringt. Den Hype darum kann ich nicht nachvollziehen ...
Der Begriff Bikepacking wurde doch nur von der Industrie für sich vereinnahmt.
Ich fahre seit mehr als vierzig Jahren Rad. Schon früher gab es auch den Begriff der Biketourer für Radreisende mit Gepäck unterwegs auf ausgesprochenen Strassen. Aber immer schon nannte man uns, wir uns, Radreisende auch Bikepacker, wie Backpacker. Radreisende mit Gepäck.
Natürlich bockt das Radfahren mit möglichst wenig Gewicht mehr, aber das Reisen mit dem Rad verlangt nach Gepäck. Für ein paar Nächte komme ich damit klar, aber Wochen, Monate und Jahre am Limit bei Wind und Wetter … nein! Und um möglichst unabhängig unterwegs zu sein, muss man ein gewisses Maß an Equipment mitnehmen. Ob das direkt am Rahmen geschieht oder in dafür vorgesehenen Taschen am Gepäckträger … alles wird mit dem Bike transportiert.
Ich möchte langsam reisen, um mehr aufzunehmen, was sich auf dem Weg offenbart.
Ich muss nicht Tag und Nacht durch die Baja fahren, nur um der Schnellste zu sein … Der Bann der Rekorde ist mir zu … , narzisstisch möchte ich nicht sagen, aber die Competition (das Messen seines Radfahrkönnens) beschränkt sich auf das reine Radfahren. Das hat nichts bei meiner Vorstellung vom Reisen zu suchen.
Ist das auch nur ein Trend? Ich bin fahrradfahrender Reisender mit dem Anspruch die Natur zu erleben und zu wahren. Wenn ich dabei auch noch besser Land und Leute kennenlernen kann, umso besser. Ich möchte den Weg genießen und was dieser so bietet. Ich genieße die Zeit im Zelt genau so, wie auf dem Sattel. Ich lebe, genieße, staune, bin faul, lasch, kreativ und sportlich zugleich. Minimalismus heißt für mich, sich über wenig freuen. Zufriedenheit im Moment der mich bereits umgebenden Natur mit wenigen Mitteln. Aber ich möchte mich nicht in meiner Bewegungsfreiheit und meiner Kreativität einschränken. Ein Kissen z.B. kann das Schlaferlebnis enorm steigern … Vor allem nach einem anstrengenden Ritt, den Kräften der Natur ausgesetzt, freue ich mich auf ein wenig luxuriösen Ausklang des Tages, denn Rad fahren selbst ist ja nicht nur reine Freude, sondern auch immer ein Stück Schmerz und Erschöpfung. Mal abgesehen von unvorhersehbaren Reparaturen, aufdringlichen Menschen und Wetterkapriolen. Radreisen, wie ich es verstehe, ist auch immer ein Stück Abenteuer.
Fazit: Absoluter Minimalismus und gleichzeitiges rundum Wohlfühlen passt nicht zusammen auf dem Reiserad. Minimalismus auf dem Rad führt zu Entsagungen aus reiner Freude an der dazugewonnen Mobilität. Damit sich Langzeitreisende auf dem Rad wohlfühlen, benötigen sie ein gewisses Maß an Equipment, das aber wiederum ihre Mobilität einschränkt. Nicht aber ihre Unabhängigkeit, Ausdauer und die Freude an der Langsamkeit, am Genuss und Komfort. Also packt so viel oder so wenig ein, wie Ihr braucht, um Euch wohlzufühlen. Setzt Eure eigenen Prioritäten. Das ist natürlich nur meine Meinung … und ich denke, das hat auch etwas mit Alter zu tun ... ich kann mich ja auch nicht damit anfreunden, meinen Blog wie die Bildzeitung zu gestalten, nur weil angeblich keiner mehr Zeit, Lust oder ausreichend Aufmerksamkeit dafür hat, ein paar Zeilen zu lesen, um komplexere Gedankenwelten nachzuvollziehen. Man muss sich Zeit nehmen, um zu verstehen. Wenn man nur noch von einem zum nächsten Konsum oder Sensationskick rennt, dann läuft man Gefahr, sinnlos mit der Masse über die Klippe der Unzufriedenheit und Empathielosigkeit zu stürzen.
Also nehmt Euch Zeit auf Eurem Weg! Es gibt viel zu entdecken ...
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